Im Arbeitskreis der Algorithmen

In einer Zeit, in der Computerprogramme zunehmend unsere Arbeit übernehmen und sogar Entscheidungen für uns treffen, stellt sich die Frage: Ist dieser Fortschritt Segen oder Fluch?

Text: Thomas Vašek

Eine 15-Stunden-Woche genügt. In einer Welt des allgemeinen Wohlstandes, so prophezeite John Maynard Keynes werden die Menschen kaum noch arbeiten müssen. Ausgerechnet im Jahr 1930, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, wagte der berühmte britische Ökonom in einem Aufsatz mit Titel »Economic Possibilities for our Grandchildren« eine kühne Prognose, die seine Fachkollegen bis heute beschäftigt: Dank des technologischen Fortschritts werde die Menschheit binnen 100 Jahren imstande sein, ihre ökonomischen Probleme zu lösen. Vorübergehend werde zwar eine neue Form der »technologischen Arbeitslosigkeit« entstehen. Doch das sei nur eine Übergangsphase, eine temporäre »Fehlanpassung« auf dem Weg in eine Welt der Freizeit und des Überflusses. Mehr als 80 Jahre später sieht es so aus, als könnte Keynes am Ende recht behalten.

Die digitale Revolution ist im Begriff, die Arbeit radikal zu verändern. Womöglich stehen wir sogar vor einem »zweiten Maschinenzeitalter« meinen die Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee in ihrem Buch »The second machine age«. Computer und andere digitale Technologien, lautet ihre provokante These, werden viele unserer kognitiven Fähigkeiten ersetzen, wie die Dampfmaschine einst die menschliche Muskelkraft ersetzt hat. Und wie die erste Maschinen-Revolution, werde auch die zweite nicht bloß zu mehr Wohlstand führen, sondern auch zu neuen Verwerfungen – bis hin zu jener »technologischen Arbeitslosigkeit«, die Keynes einst vorhergesagt hat.
Die Automatisierung des Geistes hat begonnen. Schon heute können Computer Krankheiten diagnostizieren, Texte übersetzen – und in einem gewissen Rahmen sogar mit Menschen kommunizieren, siehe Apples Sprachassistent Siri. Computer werden nicht bloß ständig leistungsfähiger und schlauer. Sie haben auch Zugang zu immer gewaltigeren Datenmengen. Noch vor zehn Jahren hätte es kaum ein Experte für möglich gehalten, dass Computer eines Tages ein Auto durch starken Verkehr steuern könnten. Heute funktioniert das selbstfahrende Google-Auto zumindest im Test.
Von »Cloud Computing« über »Big Data« bis zum »Internet der Dinge«, in dem alles mit jedem vernetzt ist: Fast alle Visionen, die noch vor wenigen Jahren als Träumereien hoffnungsloser Zukunftsoptimisten galten, sind heute realisiert oder in greifbare Nähe gerückt. Selbst der Science-Fiction-Traum vom Roboter, der uns im Alltag unterstützt, könnte sich demnächst erfüllen.
Die philosophische Frage ist allerdings, was all die sagenhaften Fortschritte zu bedeuten haben: Was heißt es für unsere Arbeit, wenn Computeralgorithmen Urteile fällen? Erniedrigt die Technologie den Menschen? Und führt die Digitalisierung womöglich zu gänzlich neuen Formen entfremdeter Arbeit?

Der technische Stand der Arbeitsmittel – die »Produktivkräfte«, wie Karl Marx sie nannte – hat die Arbeit immer schon bestimmt, von den ersten Steinwerkzeugen bis zum Internet. Der technische Fortschritt wurde dabei zu allen Zeiten ambivalent gesehen. Die einen begrüßten die neuen Technologien, weil sie es ermöglichten, gefährliche und anstrengende menschliche Arbeit zu ersetzen. Die anderen reagierten mit erbittertem Widerstand, wie die »Ludditen«, jene englischen Textilarbeiter, die zur Zeit der industriellen Revolution Maschinen zerstörten.
Die Kritik an der Mechanisierung der Arbeit reicht zurück bis zur ersten industriellen Revolution. Selbst Adam Smith (1723–1790), der Urvater der liberalen Marktwirtschaft, kritisierte die abstumpfende Arbeit in den Fabriken. Marx und Engels prangerten später die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung der Industrieproletarier an. Im 20. Jahrhundert wurde die Fließbandarbeit für viele zum Inbegriff von Verdinglichung und Entfremdung im Industriekapitalismus.
Die beginnende Automatisierung der Fabriken weckte Hoffnungen auf die Befreiung von der Arbeit – und schürte zugleich neue Ängste. Der österreichische Philosoph Günther Anders (1902–1992) etwa konstatierte eine »prometheische Scham« vor der Überlegenheit der von uns selbst geschaffenen Apparate. Die automatisierte Fabrik degradiere den Menschen zum bloßen »Objekthirten«, der nur noch damit beschäftigt sei, die Maschine zu hüten – und im Grunde gar nichts mehr zu tun habe: »Selbst der Schweiß bleibt ihm versagt.«
Ähnlich umstritten sind heute die digitalen Technologien. Während die einen von ihren fantastischen Möglichkeiten schwärmen, sehen die anderen sie als die effizientesten Überwachungs-und Kontrollinstrumente, die der Mensch je hervorgebracht hat. Einerseits bringen sie Zeitersparnis und Komfort. Andererseits treiben sie uns vor uns her, indem sie uns das Gefühl vermitteln, wir könnten immer mehr in immer weniger Zeit tun. Zwar erweitern sie unsere Möglichkeiten, doch zugleich geben sie uns ihre eigenen Regeln und Normen vor.
Wenn Bankmitarbeiter heute Kredite vergeben, folgen sie den Anweisungen einer Software, die auf Basis von Kundendaten die Kreditwürdigkeit bestimmt. In der Logistik entscheiden Computerprogramme über Transportrouten und Lagerbestandsmanagement. An den Börsen wickeln vollautomatisierte Handelssysteme binnen Sekunden Tausende Transaktionen ab. Großkonzerne nutzen hochkomplexe Softwarepakete, um Produktionsvorgänge zu steuern oder Stellenbewerber nach bestimmten Kriterien zu filtern – und nicht zuletzt, um die »Performance« ihrer Mitarbeiter zu kontrollieren.
Big-Data-Algorithmen durchforsten heute gewaltige Datenmengen nach Mustern, um statistische Vorhersagen zu treffen. Datengetriebene Entscheidungen könnten schon bald das menschliche Urteil ergänzen oder gar überflügeln. Auch im künftigen Arbeitsalltag müssen wir uns immer mehr darauf verlassen, dass Algorithmen die richtigen Schlüsse ziehen.
Neue Informationstechnologien erlauben es zugleich, komplexe kognitive Aufgaben in immer kleinere, einfachere Teilschritte zu zerlegen – und höher qualifizierte Arbeit zu ersetzen. »Digitaler Tayorismus« nennen das die Sozialwissenschaftler Phillip Brown, Hugh Lauder und David Asthon in ihrem Buch »The Global Auction«.
Wirtschaftsvisionäre propagieren bereits das digitale Unternehmen der Zukunft, in dem sämtliche Prozesse untereinander vernetzt sind und zugleich mit der Daten-Cloud. kommunizieren. In der automatisierten Fabrik sollen Maschinen und Werkstücke miteinander »reden«, von der Bestellung bis zur Auslieferung des Produkts. Der Mensch spielt in diesem System nur mehr eine untergeordnete Rolle.
Keiner hat die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung so prophetisch vorhergesehen wie Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik. In seinem Buch »Mensch und Menschmaschine« verglich er vor über 60 Jahren die automatisierte Fabrik mit einem »vollständigen Lebewesen«. Wiener warnte nicht nur vor einer neuen Arbeitslosigkeit ungeahnten Ausmaßes, sondern auch vor der drohenden Herabsetzung des Menschen, der zunehmend mit der »überlegenen Gewandtheit« der Entscheidungen von Maschinen konfrontiert sei.
Es ist keine Frage, dass digitale Technologien viele Dinge besser können als wir. Doch wie wir diese Technologien nutzen, ob sie unsere Fähigkeiten erweitern oder uns bloß instrumentalisieren, hängt von den jeweiligen sozialen Praktiken ab, in die sie eingebettet sind. In der aktuellen Debatte könnte es daher helfen, einen alten, vielfach diskreditierten Begriff wieder stark zu machen – den Begriff der Entfremdung.
Nach Karl Marx hat »entfremdete Arbeit« vier Dimensionen. Erstens entfremdet sie den Arbeiter unter kapitalistischen Bedingungen vom Produkt seiner Arbeit, zweitens von der eigenen Tätigkeit, drittens von anderen Menschen – und viertens schließlich von seinem menschlichen »Gattungswesen«. Fasst man Entfremdung als eine Art gestörte Welt- und Selbstbeziehung, wie etwa die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi, lässt sich der Begriff fruchtbar machen, um den digitalen Wandel besser zu verstehen.
Auch digitale Arbeit kann entfremdet sein, wenn es nicht gelingt, sich mit der eigenen Tätigkeit zu identifizieren. Aus dieser Sicht besteht »digitale Entfremdung« wesentlich darin, dass wir unsere eigene Tätigkeit nicht unter kognitiver Kontrolle haben: Nicht wir nutzen die Programme, sondern die Programme nutzen uns.

Zum einen kann Entfremdung darin bestehen, dass man Algorithmen unterworfen ist, deren Entscheidungen man weder hinterfragen noch revidieren kann. Zweitens kann digitale Arbeit entfremdet sein, wenn sie sich auf das softwaregestützte Abarbeiten einzelner Schritte und Routinen beschränkt, siehe »digitaler Taylorismus«. Drittens kann sie entfremdet sein, wenn uns die Algorithmen ein Zeitregime aufzwingen, das mit guter Arbeit nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Viertens kann man von digitaler Entfremdung sprechen, wenn die Technologien soziale Interaktionen mit anderen ausschließen. Fünftens schließlich ist digitale Arbeit dann entfremdet, wenn sie ausschließlich in ihrer algorithmischen Dimension besteht – wenn die Arbeit also genauso gut ein Computer machen könnte. In diesem Fall ist es besser, so könnte man behaupten, wenn die Arbeit tatsächlich ein Computer macht.
Wenn die Ökonomen Brynjolfsson und McAfee recht haben, werden die neuen Technologien viele schlechter qualifizierte Jobs überflüssig machen. Das bedeutet zwar nicht das vielbeschworene »Ende der Arbeit«. Aber die Digitalisierung wird die Arbeit neu definieren. In den Algorithmen liegt das Potenzial für experimentelle, hochkreative Arbeitsformen ebenso wie für digitale Fließbandarbeit, die unser Leben zerstört. Fähigkeiten wie Kreativität, Risikobereitschaft und Innovation werden den Menschen auch künftig Vorteile gegenüber den Algorithmen verschaffen – und sie zugleich dazu qualifizieren, mit den Algorithmen und Robotern auf produktive Weise zusammenzuarbeiten. Dazu müssen wir allerdings die Vorstellung überwinden, dass Mensch und Computeralgorithmen in einem Gegensatz stehen – und der menschliche Geist gewissermaßen »an der Schädeldecke« endet, wie es der australische Philosoph David Chalmers ausgedrückt hat. Wenn Algorithmen für den Menschen denken und entscheiden, so ist das keine Herabsetzung des menschlichen Geistes, sondern eine Erweiterung.
Zugleich liegt in der Digitalisierung die große Chance, über den Wert der Arbeit für unser Leben neu nachzudenken. John Maynard Keynes meinte einst, dass 15 Stunden pro Woche vollauf genügen, um unser Arbeitsbedürfnis zu befriedigen. Der Meisterökonom habe dabei wohl das Konsumbedürfnis der Menschen unterschätzt, den Wert der Freizeit hingegen überschätzt, meinen einige seiner heutigen Fachkollegen. Doch in der heutigen Welt allgemeiner Zeitknappheit könnte Keynes´ Prognose neue Bedeutung erlangen. Von der Menschheitsleistung der digitalen Revolution sollten alle Menschen profitieren, und zwar nicht nur in Form von mehr Konsum oder einer »Automatisierungsdividende«, wie sie etwa die Autoren Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem Buch »Arbeitsfrei« fordern – sondern in Form von mehr Zeit. Der digitale Wandel könnte es ermöglichen, die Arbeitszeit in naher Zukunft zu reduzieren. Dann hätten wir mehr Zeit »für uns selbst«, wie es Keynes erhoffte, während die Programme einen immer größeren Teil unserer Arbeit machen. Das gilt erst recht in Bereichen, in denen die Algorithmen ohnehin besser sind als wir.

LEKTÜRE
Constanze Kurz, Frank Rieger
Arbeitsfrei
Riemann, 2013

Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee
The second machine age
Norton, 2014

Hugh Lauder, David Asthon
The Global Auction
Oxford University Press, 2012

Norbert Wiener
Mensch und Menschmaschine
Ullstein, 1958

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