Die Kunst des Scheiterns

Text: Rebekka Reinhard

Vorsicht, Zukunft! Nachdem sich auch in deutschen Unternehmen herumgesprochen hat, dass die Zukunft schneller kommt und anders aussieht als erwartet, wird neben dem Erfolg das Scheitern ganz groß geschrieben. Scheitern passt hervorragend in eine Welt, die mit dem Vergangenen nicht mehr viel anzufangen weiß, und die man mangels geistreicherer Alternativen VUCA (für „Volatility“ „Uncertainty“, „Complexity“ und „Ambiguity“) getauft hat. Die meisten Entscheidungsträger haben verstanden, dass in einem launischen Universum die Kenntnis und Anwendung bewährter Routinen für den Erfolg eher hinderlich sind. So hat, wie es scheint, die Suche nach einer pragmatischen Fehlerkultur das Streben nach Perfektion und Lösungsorientiertheit abgelöst.

Ohne Scheitern kein Erfolg, lautet das neue Mantra – aber verstärkt die der Niederlage eigene Ineffizienz nicht den fortbestehenden wirtschaftlichen Druck? Doch. Also geht man auf Nummer sicher. Man beschränkt sich aufs Geschichtenerzählen. Presst das Scheitern in Ratgeber, zwängt es in Kick-Off-Workshops und Impulsvorträge, kritzelt es auf Flipcharts, lässt es von Power Point-Folien auf das Auditorium abstrahlen. Geschichten des Scheiterns appellieren an den Menschen im Manager, an seine weiche, verletzliche, selbstzweiflerische, ewig adoleszente Seite, die vor Authentizität nur so trieft – und lassen sich wunderbar crossmedial vermarkten. Hinterher. Wenn der Zeit-, Kosten- und Statusverlust, die die jeweilige Bauchlandung mit sich bringt, verschmerzt ist. Wenn das Versagen soweit begriffen ist, dass es narrativ überformt und als (künftiger) Erfolg verkauft werden kann. Wenn es sich in einer positiven Bilanz aufheben lässt. Was für Donald Trump gilt, gilt auch für Benjamin von Stuckrad-Barre: Niederlagen sind erst toll, wenn sie überwunden sind.

An alle Führungskräfte und CEOs, die sich selbst und ihr Team zum Scheitern, das heißt – und zwar pronto! – zum Erfolg animieren wollen: Bitte einmal kurz innehalten, den Hebel im Großhirn umlegen und die Gedanken auf „Flugmodus“ schalten. Was heißt Scheitern wirklich? Lösen wir uns doch hier einmal für einen Moment von der Zukunft und betrachten drei mythische Modelle, die das neue Trendthema etwas differenzierter darstellen.

Modell Sisyphos: Der Kontrollverlust. An den vor Urzeiten Korinth regierenden König erinnert ein Mythos, der aus einer einzigen eindrucksvollen Szene besteht: Sisyphos, der nur mit seiner Muskelkraft und unter Schmerzen einen riesigen Stein einen Hang hinauf wälzt. Kaum ist der Gipfel erreicht, verliert er die Kontrolle über den Felsbrock, sodass er wie von Zauberhand ins Tal zurückrollt. Sisyphos, schweißgebadet und staubbedeckt, muss sein Werk von neuem beginnen. Wieder rollt der Stein von selbst herunter, wieder muss er von vorn anfangen, und so weiter ad infinitum. Verantwortlich für diesen ewigen Kreislauf sind die Richter der Toten, die den intelligenten, aber überheblichen König strafen, weil er sich über seine Sterblichkeit hinwegsetzte und dem Hades entfloh. Sisyphos scheitert an seiner Lebensgier, der Unfähigkeit, maßvoll und anständig zu leben. Sein Scheitern mündet in eine Endlosschleife. Der Kontrollverlust wird ihm zur Routine.

Modell Don Quichote: Der Realitätsverlust. Auch Miguel de Cervantes’ Roman über einen Landjunker, der sich so tief in die Lektüre von Ritterromanen verbeißt, dass er den Verstand verliert, ist zum Mythos geworden. Mit einer rostigen Rüstung, einem Visier aus Pappmaschee, einem müden Gaul und einem kleinen, runden Bauern namens Sancho Panza zieht Don Quichote los, um die Tradition des fahrenden Ritterstandes neu zu beleben. Der Held arbeitet wie Sisyphos hart an seinem Versagen. Er bekämpft viele hunderte Seiten erfolglos alles, worin er verzauberte Kräfte erkennt: Windmühlen, Schafsherden, Gasthöfe, Weinschläuche…. bis er schließlich von einem Dorfpfarrer und einem Barbier in einen Käfig gesperrt und nach Hause gekarrt wird. Aber woran scheitert der Protagonist wirklich, an seinen verrückten Idealen oder am Wahnsinn der Realität? Das bleibt unserer Phantasie überlassen.

Modell Odysseus: Der Orientierungsverlust. Nichts ist mehr VUCA wie die Situationen, in die sich der König von Ithaka auf seiner zehnjährigen Rückreise von Troja begibt. Erstmals in der griechischen Mythologie sind die gefahrvollen Ereignisse weniger auf göttliche Vorherbestimmung zurückzuführen als auf das unverständige, frevelhafte Tun des Menschen. Wann immer Odysseus es mit einäugigen Monstern, Seeungeheuern oder Sirenen zu tun bekommt – er muss sich etwas einfallen lassen und sich seinem zentralen Zielkonflikt stellen: Einerseits will er endlich heim zu seiner Frau, andererseits auf dem Nachhauseweg möglichst viel erleben. Der Held ist hin- und hergerissen. Er versucht, beides unter einen Hut zu bekommen, und scheitert grandios. Trotz seiner ausgezeichneten Führungsqualitäten wie Intelligenz, Erfindungsgabe und Verantwortungsbewusstsein kann er sein Unternehmen nicht retten; er muss seine Gefährten in den Tod entlassen. Als er nach zehn Jahren Irrfahrt endlich in Ithaka strandet, ist Odysseus, der Vielgewandte und Vielgewanderte (polytropos), derselbe wie früher – und ist es nicht. Er ist der geworden, der er ist. Ein anderer, erfahrener, reifer Mensch. Nur weil er weiß, wen er liebt und von wem er geliebt wird, weil er nie die Zusammenhänge vergisst, denen er entstammt, kann er am Fremden und Gefährlichen wachsen. Nur deshalb beherrscht er die Kunst des Scheiterns so meisterlich.

Das Leitmotiv jedes Modells ist die Wiederholung des Misserfolgs. X Mal entgleitet Sisyphos der Stein, wird Don Quichote von seinen „Feinden“ platt gewalzt, verliert Odysseus ein paar Teammitglieder mehr. Aber es ist nie die Wiederkehr desselben. Jedes Ereignis, jedes Tun gleicht sich – doch nichts geschieht auf identische Weise. Und genau hier, in der Differenz der Wiederholung, zeigt sich, worum es beim Scheitern wirklich geht.

Es ist stets derselbe Felsbrock, der herunterrollt, aber der Typ, der ihn hochwälzt, erscheint je nach Deutung immer anders: Bei Lukrez ist Sisyphos die Personifikation grundloser Todesängste, bei Ovid die Chriffre menschlicher Qual, bei Albert Camus die Inkarnation des absurden Menschen. Günther Grass wiederum bewundert Sisyphos’ Skepsis gegenüber jeglicher Erlösungsideologie, denn schließlich „gäbe es keine schrecklichere Vorstellung als die, dass der Stein eines Tages oben liegen bliebe.“ So wie die literarische Gestalt sich im Laufe ihrer europäischen Rezeption verändert hat, so wandelt sich der Mensch selbst im Laufe seiner wiederkehrenden Kontrollverluste. Die aktuell beliebteste Sisyphos-Figur? Das Burnout-Opfer. Der Ehrgeizige, der vom Steineschleppen gar nicht genug kriegen kann, bis er selbst vom Gipfel fällt; dem Höhepunkt der blinden Betriebsamkeit, die Disziplin mit Lebenssinn verwechselt. Und dann? Wer seine Führungs-Souveränität plötzlich mit dem Krankenstand tauschen muss, läuft Gefahr, den Felsbrocken gleich wieder aufnehmen zu wollen, in Gedanken schon mal einen Beststeller über sein Elend zu verfassen. Genau darin besteht der wahre Fehler. Denn die Kunst des Scheiterns liegt nicht in seiner antizipatorischen Überwindung, sondern in der Fähigkeit, im Ungewissen, Unfassbaren zu verbleiben.

Mit dieser „negative capability“ (John Keats) eng verwandt ist der Sinn für (Selbst-)Ironie. Besäßen sie diese Kompetenz, täten sich Bosse und Betriebsräte großer Autokonzerne vielleicht nicht ganz so schwer, in Superhelden-Capes zu schlüpfen, Trampolinsprünge zu absolvieren und einen Eid über ihren Willen zur Niederlage zu schwören – wie die Absolventen der privaten „Draper University of Heroes“ im Silicon Valley. Sie würden sich im Experimentieren üben statt darin, mit rostigen Schwertern eine Welt zu verteidigen, die nur noch in den Konzern-eigenen Ritterromanen existiert. Sie würden laut rufen: „Was ist heute noch real?“ und über die Folgenlosigkeit ihres Appells lachen. Sie würden wie ein cleverer Don Quichote den Verlust der alten Realität als Chance begreifen, eine neue zu erfinden.

Warum bloß fällt uns der Orientierungsverlust so schwer? Ganz einfach. Wir haben GPS. Zu viele Reisemöglichkeiten, zu viele Coaches. Wie das Modell Odysseus zeigt, basiert die Kunst des Scheiterns neben „negative capability“ und Selbst-Ironie auch auf dem Wissen darüber, was in der größten Krise zählt: die Erinnerung an die Liebe und Menschlichkeit, die man erfahren und selbst weitergegeben hat. Erst dieser innere Kompass ermöglicht es, den Nebel und die Schmerzen der Niederlage zu transzendieren, das eigene fehlerhafte Ich geduldig aus einer radikal neuen Perspektive zu betrachten und sich, dankbar zurückblickend, darüber klar zu werden, dass einem das, was man in sicherem Besitz wähnte (Ithaka! Penelope!), durchaus wieder genommen werden kann. Nicht alles wird gut. Die Maßstäbe des Scheiterns – Angst, Sorge, Verzweiflung, Frustration – müssen denen des Erfolg ewig fremd bleiben, wenn sie ihm dienen sollen. Wer nie richtig scheitert, scheitert erst recht: an einer bornierten, ungeprüften Existenz. Man muss sich den Scheiternden als einen glücklichen Menschen vorstellen. Das Zauberwort heißt „trotzdem“.

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